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Safety first: Dieser Beitrag stellt in sehr offener Form eine persönliche Schmerzgeschichte, inklusive schwieriger Kindheits- und Erwachsenenerfahrungen mit Migräne und chronischen Schmerzen dar. Falls du selbst betroffen bist oder dich solche Themen emotional belasten, lies bitte nur weiter, wenn es sich für dich gut und richtig anfühlt.
Sorge gut für dich und hole dir Unterstützung, wenn dir danach ist.
Du bist nicht allein.

Heute lass ich mal wieder die Hosen etwas runter. Nicht weil ich dir meine achsokrasse Geschichte auftischen will. Da sind viele noch krasser unterwegs. Nein, vielmehr weil es vielleicht dem einen oder anderen Mut machen kann oder einen AHA-Moment schenkt. Falls du Interesse hast, diesen Artikel komplett durchzulesen, dann nimm dir bitte etwas mehr Zeit. Es könnte heute ein bisschen länger dauern als üblich.

Zarte sechs Jahre. Ich war sechs Jahre jung, als diese schier unerträglichen Schmerzen in in Form von Attacken mich das erste Mal heimsuchten und im wahrsten Sinne des Wortes umhauten.
Mein sonst so liebevoll eingerichtetes Kinderzimmer war stockdunkel. Von kindlicher Lebensfreude war in diesen Stunden nichts zu sehen.
Obwohl ich sonst ein geöffnetes Fenster so sehr mochte, um den Vögeln zuzuhören und die frischen Windbrisen wahrzunehmen, war es in diesem Zustand immer geschlossen. Viel zu laut waren die Aussengeräusche. Sogar das Licht, das unter dem Türspalt durchschien war zu hell.
Während des Zustandes stand auf der einen Seite immer ein Glas Cola und auf der anderen Seite das Spuckbecken bereit. Oftmals fehlte mir aber schlichtweg die Kraft dazu, um aus dem Glas zu trinken.

Der einzige Gedanke, den ich damals während dessen hatte: «Nimmt mir bitte einer diesen Kopf ab!»

Ich hatte Angst. Grosse Angst. Ich hatte Angst zu sterben. Als junges Kind hast du keine Ahnung, was eine Migräne ist. Du denkst nicht daran. Du denkst lediglich daran, dass es vielleicht etwas Böses ist. Etwas, dass deinen Kopf sogleich zur Explosion zwingt und du stirbst.

Damals als Kind sollte es noch nicht ganz so regelmässig sein, wie später. Aber dafür in einer Intensität, an die ich eigentlich während dem Schreiben dieses Artikels nicht zurückdenken möchte.
Mit den Jahren wurde es schlimmer. Die Attacken traten häufiger auf. Jedes Mal im Knock-Out. Sobald die Wirkung des Medikaments nachliess, musste erneut eine Dosis eingenommen werden. Teils über mehrere Tage hinweg. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an den damaligen Hausarzt, der teils sogar mitten in der Nacht Notfalldienst leistete und mich mit einer Spritze auffangen konnte.

Während den nächsten Jahren waren es nicht «nur» die regelmässigen Attacken. Es manifestierte sich in einen chronischen Teufelskreis an Kopfschmerzen. Oftmals sehr starken Kopfschmerzen.

Und da waren sie also. Meine praktisch täglichen Begleiter – die Kopfschmerzen. Zwischendurch gabs zur Abwechslung eine Attacke – im Durchschnitt 1-2 Mal pro Woche.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie chronische Schmerzpatienten Strategien zum Umgang mit ihrem Zustand im Alltag entwickeln und was für Copings das sind. Meine Strategie damals war sehr pragmatisch: Bloss nichts anmerken lassen, auf die Zähne beissen und durchziehen. Irgendwie wird’s schon gehen.
Über das ganze Teenager-Gedöns mag ich jetzt ehrlichgesagt nicht sprechen. Du warst bestimmt auch mal ein Teenager, kannst dir also vorstellen, wie das so abgeht 😉
Und so in etwa ging es dann auch über mehrere Jahre hinweg.

Mal ganz abgesehen von den Schmerzen, hatte ich eine tolle Ausbildungszeit. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an meine damalige Vorgesetzte, die stets sehr viel Verständnis und Feingefühl entgegengebracht hat. An meinen schlimmsten Tagen wusste sie ganz genau: Wenn die Larissa den ganzen Tag in sich kehrend am Puppenkopf ihre Frisuren übt, kämpft sie gerade gegen ihre Attacke, wir lassen sie in Ruhe machen. Erstaunlicherweise erbrachte ich an solchen Tagen die besten Ergebnisse. Warum das so war, darüber könnte jetzt lange philosophiert und anhand der verschiedenen Perspektiven betrachtet einen separierten Artikel verfasst werden.
Dennoch geriet ich damals in einen Zustand, der so nicht mehr lange tragbar war. Daher kam sie wie gerufen. Die Migräneoperation. Damals der absolute Wendepunkt! Ja, Migräne lässt sich operieren. Oder besser gesagt: Einer der möglichen physiologischen Auslöser einer Migräne kann behoben werden.  An dieser Stelle näher auf die Operation und das Procedere dahinter einzugehen, würde den Umfang dieses Artikels sprengen. Es sei an dieser Stelle deshalb auf das Migraine Surgery Center verwiesen.

Es war Juni im Jahr 2009 als ich mit Tränen in den Augen aus einer Mischform von Angst und Freude zugleich, in den Operationssaal geschoben wurde. Der nette Anästhesist liess mich an einen meiner Lieblingsorte reisen und weg war ich.
Zurück in der Welt angekommen, freute ich mich auf einen hoffentlich zukünftig schmerzfreien Neuanfang.

Komplett schmerzfrei war ich nicht. Aber entgegen dem, was ich zuvor an Schmerzen und Attacken hatte, war es gut auszuhalten. Tatsächlich nahmen die Attackenhäufigkeit und Intensität signifikant ab. Im Durchschnitt waren es 1-3 Attacken im Monat bei einer Schmerzskala, die mit Medikamenten gut zu managen war. Dank dessen konnte ich die Ausbildungszeit gut absolvieren und mit Erfolg abschliessen.

Meine erste Arbeitsstelle nach der Ausbildung war toll. Ich hatte den Quereinstieg in die Personalberatung und Administration geschafft. Demnach hatte ich täglich mit Menschen zu tun, denen ich in gewissem Masse helfen konnte. Das war es, was ich schon als Kleinkind an Beruf ausüben wollte: «Später will ich den Menschen helfen.» Auch wenn ich mir das damals eher als Ärztin vorgestellt hatte, erkannte ich später, wie vielfältig Wege des Helfens sein können. Parallel dazu absolvierte ich eine kaufmännische Ausbildung. Die Arbeit und die Ausbildung waren mir enorm wichtig. Ich wollte es richtig machen – vielleicht etwas zu sehr richtig und setzte mir kontinuierlichen Druck. Dies zeigte sich in wiederkehrenden  Kopfschmerzen und Migräneattacken. Erneut geriet ich in den Teufelskreis des Schmerzes. Und in den Teufelskreis der Medikamente. Zu Spitzenzeiten nahm ich täglich Schmerzmittel ein. Damals war mir nicht bewusst, was ich meinem Körper damit antue. Vielleicht blendete ich es auch einfach gekonnt aus, weil ich lediglich ein Ziel verfolgte: Weniger Schmerzen, um Leistung zu erbringen. Auch an dieser Stelle könnte ich jetzt in die Tiefen der Psychologie eintauchen und dieses Verhalten aufschlüsseln. Aber lass uns bei der Sache bleiben.

Tablette rein und weiter Arbeiten. Das war damals das Credo. Das ging ein paar Jahre so weiter.

Zwischenzeitlich kehrte ich der Administration den Rücken zu und bewegte mich noch näher zum Menschen. Ich betreute in der Physiotherapie die Klienten und Patienten auf der Trainingsfläche. Auch hier war es mir das Wichtigste: Den Menschen helfen. Dies im Rahmen sehr vieler unterschiedlicher, individueller Ziele. Jeder hatte seine eigene Geschichte und ich durfte ihn für mindestens eines der Kapitel begleiten. Das war erfüllend.
So nah am Menschen und mit dem Menschen zu arbeiten bedeutet, professionell sein. Dein Zustand ist nicht dessen Problem. Also Maske auf, Schmerz hin oder her. Die Mittagspause nutze ich oftmals, um mit Medikament intus ein Powenap zu machen, in der Hoffnung, danach die Schicht irgendwie durchzustehen.  Zuhause war dann Bettruhe angesagt. Was plagte mich immer und immer wieder das schlechte Gewissen, meinen Mitmenschen gegenüber oftmals eine so schlechte bzw. gar keine Gesellschaft zu sein.

Nach einem allerletzten Versuch, das Ganze nochmals ärztlich abzuklären, zog ich die Reissleine. In der Konsultation meinte mein Arzt damals: «Frau Graber, Sie tragen diese Geschichte jetzt schon so lange mit sich. Ich weiss nicht mehr weiter. Vielleicht ist es einfach an der Zeit, damit zu leben.»
Sport und Bewegung war mir schon immer sehr wichtig. Ich war schon immer sportlich, spielte sehr lange Tischtennis, trat an sämtlichen Turnieren an. Jedes Mal strafte mich im Anschluss mein Körper mit einer heftigen Attacke. Diese Intensitäten waren wohl einfach zu viel. Also hörte ich eine Zeit lang auf mit dem Sport. Ich entwickelte ein Vermeidungsverhalten und schonte mich stattdessen.
Dass auch dies, wie es auch der Medikamenten-Teufelskreis ist, kontraproduktiv war, hatte ich für eine ganze Weile gekonnt ignoriert. Bis ich die Reissleine zog und mich einer persönlichen Challenge stellte: Für ein Jahr lang – 365 Tage – jeden Tag irgendeine Form von Training. Ich habs knallhart durchgezogen. 01.01.2018 – 31.12.2018 jeden Tag trainiert. Natürlich nicht immer im Vollpump-Modus. Zwischen den regulären Krafteinheiten waren z.B. Mobilityeinheiten, moderate Ausdauer oder ein sanftes Functional- bzw. Eigengewichtstraining dran. Ich verfolgte dabei ein ganz klares Ziel: Raus aus dem Vermeidungsverhalten und Schmerzlinderung.
Es hat funktioniert. Sogar mit Bonus. Ich lernte während dieser #365-Challenge, wie ich sie nannte, enorm viel. Ich lernte sehr viel über meinen Körper, über mich selbst, über den Schmerz. Das hat mich im positiven Sinne sehr geprägt. Die chronischen Schmerzen waren zwar nicht ganz weg, aber ich hatte damit einen Weg gefunden, gut damit umzugehen. Auch konnte die Regelmässigkeit und Intensität erneut gesenkt werden. Das war für mich schon ein grosser Erfolg.

Es kamen nun Jahre, zwischendurch auch Corona, an denen ich mit den Schmerzen und den Attacken lebte. Ich lernte, damit umzugehen und es irgendwie zu akzeptieren.
Ich lernte, nicht dagegen anzukämpfen, sondern den jeweiligen Zustand als Lektion zu betrachten und daraus das Bestmögliche zu machen. #lernenkannich.
Während all diesen Jahren eignete ich mir ein sehr breites und tiefes Wissen über Kopfschmerzen und Migräne an. Chronische Schmerzpatenten sind Experten für ihre «Gesundheit».
Ich teilte dieses Wissen mit dem Bloggen. Auch da: «Den Menschen helfen». Es ging mir nie darum, in die Welt zu schreien, welch achsokrasse Schmerzen ich hab. Es ging mir immer nur um eine Sache: Je offener ich darüber schreibe und spreche, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass anderen damit geholfen werden kann.
Ehrlichgesagt, gesprochen hab ich selten darüber. Ich war keine Frau der grossen Worte. Dafür habe ich umso mehr geschrieben. Das Schreiben war schon immer und ist es nach wie vor meine Therapie, Zuflucht, Hilfe, meine grosse Leidenschaft.
Andere Kinder von damals zeichneten, ich schrieb. Immer.

Heute, 27 Jahre später, kann ich mit voller Dankbarkeit schreiben: Ich durfte den Status als chronische Kopfschmerz- und Migränepatientin endlich verabschieden.
Manchmal fühlt es sich immer noch etwas gewöhnungsbedürftig an. Ich muss schmunzeln, wenn ich das so schreibe, weil es doch im Grunde überhaupt nicht sein darf, dass das Loslassen von Schmerzen gewöhnungsbedürftig ist. Aber das zeigt – der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Auch im Hinblick auf den Schmerz. Nur dass in diesem Fall der Schmerz nicht zur Gewohnheit wird, wie es andere Routinen tun, sondern er wird leider irgendwann zu deiner Identität.
Natürlich war dieser «Abschied» kein plötzlicher Schritt. Es war ein sehr langer, oft steiniger Prozess mit Rückschlägen, kleinen Fortschritten und gaaaaanz viel Geduld.
Schmerz, der dein Leben über eine so lange Zeit mitbestimmt, löst sich nicht einfach in Luft auf.
Doch es ist tatsächlich möglich, neue Wege zu gehen, neue Routinen zu etablieren und allmählich Heilung zuzulassen.
Wie dieser Weg aussah, was geholfen hat (und was nicht) und welche Erkenntnisse ich daraus für mein restliches Leben mitnehme, erzähle ich dir im zweiten Teil dieses Artikels.
Fortsetzung folgt.
Versprochen.

Blog n` Roll

Der Baum.
Schon seit Kindesalter mein Vorbild und Symbol zugleich. Bäume haben eine unfassbare Resilienz, Stärke, Flexibilität und Hilfsbereitschaft.
In der nähe von Bäumen fühle ich mich wohl und sicher.
Auch der Baum als Symbol trug wesentlich zum erfolgreichen Heilungsprozess bei.
Danke.

larissa

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